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Manche Kinder können in der Schweiz lesen, bevor sie trocken werden. Das hat mit den supersaugfähigen Windeln zu tun – und mit unserem heutigen Erziehungsstil.
Der Bub war sechs Jahre alt, und jedes Mal, bevor ein Kind zu ihm auf Besuch kam, verräumte er zuerst den Windelstapel im Schrank. Niemand durfte sehen, dass er nachts Windeln brauchte. Regelmässig kam er mit nassen Hosen aus dem Kindergarten. Die Eltern waren deswegen bei der Kinderärztin und liessen ihn schliesslich im Spital abklären. Es wurde ihnen geraten, dass der Bub regelmässig trinken soll, damit er die volle Blase häufiger spürt, und dass sie ihn regelmässig aufs WC schicken. Doch wenn sie ihn fragten: «Musst du aufs Klo?», verneinte er, aber wurde kurz darauf doch nass. «Will er einfach nicht, oder spürt er es tatsächlich nicht?», fragte sich die Mutter.
Das ist kein Einzelfall: Die Migros meldet, dass man seit rund vier Jahren eine wachsende Nachfrage nach grösseren Windeln feststelle. Deshalb sei das Sortiment bis Grösse 8 ausgebaut worden – für Kinder ab 17 Kilogramm, also ab 4 Jahren.
Das Problem zeigt sich auch in den Rückmeldungen der Kindergartenlehrpersonen, die sagen, Kinder mit Windeln hätten sie früher nicht gehabt. Das mag damit zu tun haben, dass die Kinder heute schon mit vier Jahren eingeschult werden. Doch die Berner Entwicklungspädagogin Rita Messmer ist überzeugt, dass Kinder generell später trocken werden – wegen der Windeln. Sie kennt viele Beispiele von Kindern aus ihrer Praxis und sagt: «Die Kinder spüren tatsächlich nicht, dass ihre Blase voll ist. Kein Wunder, wenn ein Kind fünf Jahre lang in Windeln machte, die alles sofort aufsaugen, wie soll dann dafür ein Bewusstsein entstanden sein?»
Seit Jahren kämpft Messmer, 67, gegen die Wegwerfwindeln, doch es ist ein einsamer Kampf. Unterstützung bekommt sie nun wegen der Abfallproblematik: Manche Eltern ziehen ihren Babys Stoffwindeln an, um den Plastikberg zu vermeiden.
Doch die Gegner von eingepackten Pos sehen die Lösung nicht alleine in Stoffwindeln, sondern im sogenannten Abhalten: Dabei achten Eltern auf Zeichen wie Unruhe oder Weinen der Säuglinge und halten sie über ein Lavabo und setzen sie später aufs Töpfchen, besonders nach dem Aufwachen und Stillen. Messmer ist überzeugt, dass das Zeitfenster in den ersten drei Monaten liegt, denn ohne Reaktion der Eltern verschwinden die Signale der Babys.
Eine grosse Studie zeigte 2018, dass auch in China die Kinder heute später trocken werden. Ein Team um Xi Zheng Wang untersuchte, wie viele Kinder zu welchem Zeitpunkt noch einnässten. Nächtliches Einnässen fand sich bei 8,6 Prozent der Kinder von 5 bis 18 Jahren, die immer Windeln getragen hatten, bei 7,4 Prozent jener, die nur nachts Windeln getragen hatten, und bei 3,5 Prozent von jenen, die nie Windeln anhatten. Das früheste Töpfchentraining kann Einnässen also nicht komplett ausschliessen. Denn es gibt auch körperliche Faktoren, wie eine zu kleine Blase, eine Schwäche bei einem bestimmten Hormon, ein extrem tiefer Schlaf oder psychischer Stress.
«Kinder brauchen beim Trockenwerden gezielte Unterstützung.»
Karin Bühler Meyer, Urotherapeutin
In der Schweiz orientieren sich viele Eltern immer noch am Bestseller «Babyjahre» des Entwicklungspädiaters Remo Largo, gemäss dessen Studien in den 1970ern im Alter von drei Jahren 50 Prozent der Buben und 85 Prozent der Mädchen trocken waren. Mit vier Jahren stagniert die Kurve: 10 Prozent der Buben und wenige Mädchen machen tagsüber noch in die Hosen – ein Jahr später immer noch.
Sind es heute mehr? Oder reden die Eltern einfach offener darüber? Dazu gibt es wenig neue Studien. Belegt ist einzig, dass das Trockenheitstraining später beginnt, auch in China, wo Eltern häufiger Wegwerfwindeln nutzen.
Die Kleinkinderpsychologin Margarete Bolten von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) sagt, einige Eltern würden den Prozess des Trockenwerdens heute zu wenig intensiv begleiten, denn man werde nicht mehr schräg angesehen, wenn ein vier- oder fünfjähriges Kind noch nicht trocken sei. «Die Eltern sind zwar sehr informiert, aber oft auch verunsichert und wissen nicht, was sie von ihrem Kind erwarten können.» Auch Karin Bühler Meyer, Urotherapeutin am Berner Inselspital, sagt: «Kinder brauchen beim Trockenwerden gezielte Unterstützung.»
Doch weil Windeln heute keinen Mehraufwand an Waschen bedeuten und finanzierbar geworden sind, kommt das Thema in den meisten Familien erst auf, wenn es Probleme gibt. Erwachsenen ist oft nicht bewusst, dass das Ausscheiden ein komplexer Prozess ist – ein Zusammenspiel von Gehirn, Organen und Psyche, und zudem eine Kompetenz, die begleitet werden muss wie Laufen- und Lesenlernen. Das ist ein heikler Punkt: Jungen Eltern soll nicht noch mehr aufgeladen werden. Darauf weisen alle angefragten Fachleute hin. Auch weil die meisten Kleinkinder nicht mehr zu hundert Prozent zu Hause betreut werden, wäre eine enge Begleitung beim Trockenwerden schwieriger. Die meisten Fachpersonen glauben nicht, dass Abhalten im ersten halben Jahr auf die Entwicklung einen Einfluss hat. Sie sehen es nicht als Stimulation, sondern als simples Training, mit dem man die Reifung des Gehirns für die Blasen- und Darmkontrolle nicht beschleunigen könne. «Andere Entwicklungsverzögerungen sind auch salonfähig», sagt Urotherapeutin Tabea Maag vom Kantonsspital Schaffhausen. Sie kenne Familien, wo nur eines von drei Kindern ein Problem mit dem Trockenwerden habe.
Diesen Schluss hatte auch Largo gezogen: Töpfchentraining bringt nichts. Allerdings praktizierten die Eltern seiner Studien nicht das Abhalten ab Geburt, sondern begannen erst nach einem halben Jahr. Rita Messmer ist überzeugt: «Largo wollte vor allem den Druck aus der Kindererziehung nehmen, der damals zu gross war.» Sie glaubt, das Problem sei grösser, als die westliche Welt wahrhaben wolle: «Es ist möglich, dass die Dreimonatskoliken damit zusammenhängen, dass die Kinder in die Windeln machen müssen.» Messmer geht noch weiter: «Warum sinkt die Spermienqualität der heutigen Rekruten immer stärker? Es ist bestimmt nicht gut, wenn die Hoden zu lange in warmen Plastikwindeln stecken.»
Dass das Trockenwerden von alleine kommt, glaubte auch Largo nicht und schrieb, als Eltern könne man den Zeitpunkt des Trockenwerdens verpassen. Das Kind könne sich so daran gewöhnen, dass es sein Geschäft nur noch in Windeln verrichten wolle. Messmer kennt das: «Ich habe Kinder in meiner Praxis, die können fürs kleine Geschäft problemlos aufs WC, aber beim Stuhlgang macht der Darm nur auf, wenn der Po die Windeln spürt. Das ist einfach falsch konditioniert.» Messmer ist seit Jahrzehnten am Thema dran und kennt laut eigener Aussage Hunderte Kinder, die ab Geburt abgehalten wurden. «Sie waren alle spätestens mit zwei Jahren trocken», sagt sie.
In Windelfrei-Foren im Internet berichten allerdings auch Eltern, dass sie die Signale des Kindes nicht erkennen oder die Methode nicht ganz klappt. Auch Messmer verweist darauf, dass ein Säugling bis zu 20-mal pro Tag ausscheidet und das Dogma «komplett windelfrei» ein unnötiger Stress sei. Bei anderen funktioniert es tatsächlich windelfrei. Eine Freiburger Mutter sagt, sogar ihr ältestes Kind, das mit Behinderung zur Welt kam, sei mit 17 Monaten trocken gewesen, und es habe nicht einmal dann einen «Unfall» gegeben, als es knapp einjährig Durchfall gehabt habe. «Die Leute haben das Gefühl, es gebe weiss was zu tun, aber es ist nicht kompliziert. Andernfalls ist man doch ständig am Wickeln und hat entzündete Pos.» In der Kita trugen ihre drei Kinder Windeln.
Ein Vater aus Prilly bei Lausanne sagt, sein Sohn habe seit Geburt sein grosses Geschäft nur viermal in die Windeln gemacht. «Er hat wirklich darauf gewartet, abgehalten zu werden. Pipi hat er ab und zu in die Windeln gemacht. Man kann nicht immer auf Zack sein.» Nun sei er zwei Jahre alt und sage «Pipi», wenn er müsse.
Andere finden sich mit Zwischenlösungen ab, weil Grosseltern, die Kita oder die Partnerin nicht mitmachen. Wie bei Pascal Koehli. Seine Tochter war mit zwei Jahren nachts trocken, der Sohn leert nun mit 21 Monaten seinen Hafen selber. Koehli sagt: «Eltern versuchen heute, bedürfnisorientiert zu reagieren bei Hunger, Schlaf und Nähe – bloss das Ausscheidungsbedürfnis interessiert niemanden. Dabei könnte es eine Erklärung fürs scheinbar grundlose Weinen in den ersten Monaten sein. Kein Tierkind macht ins eigene Nest.»
Doch selbst diese Beispiele lassen die Fragen offen: Beeinflusst der angeborene Ausscheidungsreflex die Reifung der Blasenkontrolle im Gehirn? Lassen sich so spätere Probleme vermeiden? SP-Nationalrätin Ursula Schneider Schüttel reichte zu dem Thema im Juni ein Postulat ein und fragte, ob der Bundesrat bereit sei, über die negativen Seiten von Wegwerfwindeln zu informieren und Studien in Auftrag zu geben, die das angeborene Verhalten von Babys in den ersten Monaten untersuchen.
Der Bundesrat verwies auf eine Meta-Analyse vom Mai. Ein Team um den Dänen Anders Breinbierg hatte alle Studien der letzten Jahrzehnte gebündelt und acht genauer analysiert, darunter jene aus China. Das Fazit: «Die Studien zeigen eine Tendenz, dass der Gebrauch von Windeln mit einer verspäteten Kontinenz zusammenhängt.» Doch es könne kein sicheres Fazit gezogen werden, weil die Literatur ungenügend sei.
Warum wird Trockenwerden nicht besser erforscht? Klar ist: Es gibt keine wirtschaftlichen Interessen, dass der Windelverbrauch sinkt. Und man fürchtet, dass arbeitende Eltern unter zusätzlichen Druck kämen.
Handlungsbedarf gibt es aber, wenn Kinder mit Windeln eingeschult werden. Mazen Zeino, Kinder-Urologe am Inselspital Bern, sagt, er habe den Eindruck, in der Schweiz werde das Thema später angegangen. In Österreich und Deutschland, wo Zeino gearbeitet hat, würden Eltern schauen, dass das Kind auf den Schulbeginn trocken wird. «Sie kommen dementsprechend früher in die Therapie. Wir haben leider immer wieder Kinder, die kommen erst mit 12 oder 14. Ich mag mir nicht vorstellen, welche unangenehmen Situationen sie bis da meistern mussten.» Auch die Internationale Kinder Kontinenz Gesellschaft ICCS empfiehlt eine Abklärung ab sechs Jahren.
Zeino hat auch in Pakistan gearbeitet. Da seien die Kinder in der Regel mit zweieinhalb trocken. Das frühere Trockenwerden in anderen Kulturen anerkennt auch Oskar Jenni, Professor für Entwicklungspädiatrie an der Uni Zürich. Doch er sagt, dieser asiatische oder afrikanische Erziehungsstil basiere darauf, dass die Bezugspersonen die kindlichen Signale besser erkennen könnten, da sie zu ihnen engen Körperkontakt hätten. Das sei eine Leistung der Bezugsperson, nicht des Kindes. Urotherapeutin Bühler Meyer hingegen sieht es als durchaus möglich an, dass die Wahrnehmung positiv beeinflusst werden kann, indem Eltern auf Signale von Harn- und Kotabgabe reagieren. Der Reifungsprozess gebe aber trotzdem den Startpunkt für eine Blasen- und Darmkontrolle vor.
Die Dänen konnten in ihrer Meta-Analyse die Frage zum Einfluss der Reinlichkeitserziehung in den ersten Monaten auch nicht beantworten. Sie hielten aber fest: «Wir spekulieren, dass es, je komfortabler und praktischer Windeln werden, desto mehr braucht, um die Kinder und Eltern zu motivieren, sie nicht mehr zu brauchen.»
Es gilt, wie Pädagoge Remo Largo warnt, den Zeitpunkt nicht zu verpassen, wann ein Kind seine Ausscheidungsbedürfnisse wahrnimmt. Innerhalb des Zeitfensters ist der Moment durchaus beeinflussbar: Es gibt Beispiele, wo Kinder auf einmal trocken wurden, als es in einem Hotel extrakleine Kinder-WCs hatte, als ein schöner Topf gekauft wurde, als das Kind in den Sommerferien nackt herumlaufen durfte, als die restlichen Windeln einem neugeborenen Nachbarskind stolz überreicht werden konnten ... Entwicklungspädagogin Rita Messmer bereitet blockierte Kinder auf den Moment ohne Windeln vor. Und sie baut Elemente des Selber-Bestimmens ein: Kinder dürfen wählen, ob sie künftig lieber aufs WC oder den Topf wollen. Beim Topf dürfen sie bestimmen, wie er aussehen soll. Dann darf das Kind einfach einmal draufsitzen. Manchen zeigt sie dazu Videos von anderen Kindern auf dem Topf.
«Oft schauen die Kinder fasziniert zu», sagt Messmer. Das Kind darf dann so viele Windeln von einem (kleinen) Stapel nehmen, wie es will, und es wird abgemacht, dass das die letzten sind. Dann gibt Messmer den Eltern ein fiktives Rezept. Am Tag, bevor die Windeln zur Neige gehen, holen die Eltern die Placebo-Tröpfchen hervor, und dem Kind wird gesagt, dass diese machen, dass es klappt. «So wird das Gehirn auf den Zeitpunkt vorbereitet, und der Schliessmuskel ist nicht mehr blockiert», erklärt Messmer. «Dem Moment muss die Spannung genommen werden.» Das erste Mal auf dem Topf oder auf der Toilette sollte als erste Fahrt mit dem Pedalenvelo angesehen, und nicht wie ein Prüfungstermin vermittelt werden.
Für Erwachsene ist der Gang zum WC ein Nebengeschäft. Kinder profitieren aber davon, wenn die Eltern sie begleiten: Zusammen aufs WC gehen und ein Buch anschauen, kann Verstopfungen/Verkrampfungen verhindern.
Die Wahrnehmung einer vollen Blase kann geübt werden. Das geschieht, indem Eltern ihre Kinder fragen, ob sie aufs WC müssten – weniger drängend ist die Frage, wie voll die Blase sei. Älteren Kindern kann der Rat gegeben werden, im Unterricht regelmässig mit der Blase zu «telefonieren», rät Urotherapeutin Tabea Maag. Manche wollten ihre Tätigkeit nicht unterbrechen oder der Kopf nehme die Signale nicht wahr, weil sie auf etwas Anderes konzentriert seien.
Das Thema WC kann zwischen Eltern und Kind zu dominant werden. Pausen in der Töpfchenerziehung sind empfehlenswert. Trotzdem können Eltern darauf bestehen, dass das Haus nur verlässt, wer auf dem WC war. Als Kompromiss (anstatt Machtkampf) liesse sich aushandeln, dass das Kind sofort im Zug oder in der Kita aufs Klo geht.
«Einen klaren Standpunkt zu vertreten, ist eine wichtige Grundkompetenz als Eltern», sagt Kinderpsychologin Margarete Bolten. Eltern fühlten sich heute schnell unter Druck gesetzt von den Schreien des Kindes. «Unsere Schreitoleranz ist gesunken», sagt sie. Eine ruhige innere Haltung wäre gut, rät Boten. Im Sinne von: Ich verstehe, dass du das (zum Beispiel die Windeln) willst, aber es ist nicht gut für dich.
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